Im Gespräch|Neun Fragen an Dr. Melanie H. Adamek

Der Therapieraum Wald ist in Deutschland

von Politik, Wissenschaft und Gesellschaft maßlos unterschätzt.

Ein No-Go, in einem Land, dem eine besonders tiefe Liebe zum Wald nachgesagt

wird und dessen Gesundheitssystem unter der Last zunehmender Zivilisationskrankheiten genauso ächzt wie andere Länder auch.

Seit gut 20 Jahren konzentriert sich Dr. iur. Melanie H. Adamek als Verlegerin und Autorin auf den Bereich der öffentlichen Gesundheit, speziell auf Gesundheitsförderung und Prävention. Das Im-Wald-Sein hat sie vor einigen Jahren wiederentdeckt.


Ihre Faszination für das unter dem Stichwort Waldbaden diskutierte Thema Wald und Gesundheit führte Sie u.a. nach Japan und Südkorea, wo aus den Gesundheitswirkungen des Waldes keine esoterische Spinnerei gemacht wird, sondern eine umfassende Gesundheitsstrategie. 


In Japan absolvierte Dr. Melanie H. Adamek bei der Ikone des Waldbadens, Dr. Qing Li, eine von der INFOM (International Society of Nature and Forest Medicine) zertifizierte Schulung in Forest Medicine. Mit Dr. Qing Li und Dr. Aran Tomac gründete sie im November 2019 die IM-WALD-SEIN® Akademie, die das Shinrin Yoku nach Dr. Qing Li und die IM-WALD-SEIN-Methode fundiert und praxisbezogen vermittelt. Im November 2020 übernahm sie die Leitung des IM-WALD-SEIN® INSTITUTS FÜR WALDMEDIZIN UND WALDTHERAPIE.


Dr. Melanie H. Adamek sensibilisiert die Akteure des Gesundheitswesens für dieses essenzielle Zukunftsthema und bringt den Wald als wichtigen Partner für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden in unser Bewusstsein zurück. Dem Einzelnen gibt sie mit ihrer IM-WALD-SEIN®-Toolbox Mittel an die Hand, die Heilkraft des Waldes neu zu entdecken.


Als INFOM-zertifizierte Wald-Gesundheits-Expertin, Stellvertretende Vorsitzende des Fachausschusses für Wald-Gesundheits-Forschung des WFCMS (Weltverband der Chinesischen Medizingesellschaften) und Mitglied im Komitee zur Fortschreibung von Standards waldmedizinischer Behandlungsverfahren ist sie eine der kompetentesten Ansprechpartnerinnen in Europa.

Sie sind gelernte Juristin. Was gab den Anstoß, sich mit Gesundheit, Stress und dessen Bewältigung speziell durch das Im-Wald-Sein zu beschäftigen?

Nach meiner Tätigkeit als Justiziarin eines großen internationalen Fachinformationskonzerns wechselte ich in die Geschäftsleitung eines Tochterverlags von Wolters Kluver. 2001 gründeten Dieter. H. Begel und ich die OPTIMUM Medien & Service GmbH, einen Verlag, der thematisch auf Gesundheitskommunikation spezialisiert ist und unter anderem Krankenkassenmagazine verlegt.


Angesichts stetig zunehmender – häufig stessinduzierter – Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nimmt das Thema gesundheitliche Prävention in unserer redaktionellen Arbeit natürlich einen hohen Stellenwert ein.


Bei jeder Publikation müssen zwei Fragen mit beantwortet werden: Welche Elemente eines gesunden Lebensstils empfehlen wir unseren Leser*innen? Das mag vielleicht lapidar klingen, ist bei einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft als Herausgeberin aber tricky: Nicht alles, was schick ist, ist valide, nicht alles Valide ist schick.


Die zweite Frage ist noch spannender: Wie schaffen wir es, die Menschen für die persönliche Gesundheitsvorsorge zu begeistern. In den meisten Fällen ist das mit mehr oder weniger drastischen Lebensstilveränderungen verbunden. Die machen – Stichwort Schweinehund – den meisten erst mal keinen Spaß. Da wir aber alle die Liebe zur Natur in uns tragen (Biophilie) kann sie uns motivieren, gesunde Verhaltensweisen zu entdecken und zu verinnerlichen.


Darüber hinaus ist der Wald stark in meiner Biografie verankert. Mittlerweile bin ich auch selbst Kleinstwaldbesitzerin.

Der Wald wird zwar gerne als Kraft- und Ruheort gesehen, dass er aber wie ein Heilmittel wirkt, wird oft als esoterische, nicht belegte Idee abgetan.

Ja, genau. Das dachte ich zunächst auch, als ich das erste Mal vom Shinrin Yoku (Waldbaden) hörte. Als Hundemama bin ich fast täglich im Wald und genieße diese kleinen Mikroabenteuer vor der Haustür sehr. Die Frage, ob diese entspannten Auszeiten im Wald auch handfeste gesundheitliche Vorteile bieten, stellte ich mir jedoch nie. Darauf brachte mich erst eine Artikelrecherche zum Shinrin Yoku, wie das Waldbaden auf japanisch genannt wird, und ein sehr persönliches Erlebnis.


In Japan gibt es mit der von Dr. Qing Li initiierten Forest Medicine eine wissenschaftliche Forschungsrichtung, die sich interdisziplinär mit dem Wald als Gesundheitsort beschäftigt. Die immunologischen Studien – viele davon in meinem Buch nachzulesen – sind faszinierend und zeigen deutlich, wie sehr es sich lohnt, im Wald zu sein. Ich bin sicher, dass die Menschen mit anderen Augen in den Wald gingen, wenn Sie besser über die enormen Gesundheitswirkungen Bescheid wüssten.

Alle Welt scheint über das Waldbaden zu reden. Sie aber sprechen vom Im-Wald-Sein. Warum?

Ich finde diesen Begriff offener und treffender. Waldbaden ist die deutsche Übersetzung des japanischen Begriffs Shinrin Yoku. Shinrin steht für Wald und Yoku könnte man mit baden, im Sinne von in die Atmosphäre des Waldes eintauchen übersetzen. Im Englischen heißt es Forest Bathing. Die Südkoreaner sprechen vom Forest Healing. Geht es um das durch Fachleute der Waldmedizin begleitete Waldbaden, spricht man von Shinrin Therapy oder Forest Therapy (dt. Waldtherapie). In meinem Buch schlage ich folgende, mittlerweile von anderen Fachautoren übernommene Definition vor:


„Waldtherapie bezeichnet in Japan die Praxis von gesundheitsfördernden Freizeitaktivitäten in einer speziellen Waldumgebung, die unter der Aufsicht medizinisch geschulten Personals durchgeführt wird, um eine ganzheitliche Steigerung von Gesundheit und Wohlbefinden zu erreichen – mit nachweisbaren Entspannungseffekten.“


Im-Wald-Sein ist also treffender, denn das Im-Wald-Sein ist das Ziel jeder Maßnahme. Indem man im Wald präsent ist, sich auf seine Atmosphäre einlässt, ihn wahrnimmt und auch wahrnimmt, was der Wald mit einem macht, erreicht man die Grundvoraussetzung für Stressabbau und Entspannung.

Und warum qualifiziert sich das Im-Wald-Sein als Präventionskonzept?

Weil es eine Fülle ernst zu nehmender Belege gibt, dass der entspannte Waldaufenthalt gesundheitsfördernd wirkt. Verlässliche Forschungsarbeiten zeigen: Das Im-Wald-Sein ist gut für die Seele, es wirkt gegen Stress und mentale Erschöpfung und aktiviert wichtige Zellen des Immunsystems.


Eine ideale Präventionsmaßnahme also, die potenziell sogar vor der Entstehung von Krebs schützen kann. In meinem Buch finden Sie viele Studien und vor allem auch wichtige Metastudien. Die sammeln existierendes Datenmaterial und bewerten Forschungsergebnisse nach festgelegten wissenschaftlichen Standards. Das Resultat sogenannte Reviews liefern eine gute Übersicht zum Stand und zur Qualität bestehender Studien.


Die Sekundärforschung zeigt zum einen, dass es bereits viele Studien gibt und dass Shinrin Yoku und Forest Bathing bei vielen Erkrankungen wie etwa Diabetes, Atemwegserkrankungen, COPD, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Bluthochdruck positive Wirkungen haben.


Überdies werden derzeit Waldtherapieprogramme untersucht, um zu sehen, welche Maßnahmen therapeutisch wirken können. Das finde ich besonders spannend und unsere IM-WALD-SEIN® Akademie forscht auch zu diesen Themen.

Tatsächlich?!

Im-Wald-Sein als Therapie?

Genau. Vieles deutet darauf hin, dass das Im-Wald-Sein als ergänzende Therapiemaßnahme zum Beispiel bei der Behandlung von Depressionen oder in der Krebsbehandlung wirksam sein kann, wenn es durch entsprechend qualifizierte „Behandler“ mit medizinischem Hintergrund angeleitet wird.


Ein Beispiel, wo solche Programme durchgeführt werden, ist der Waldtherapiegarten Nacadia in Dänemark. Seit 2011 werden dort Menschen mit stressbedingten Erkrankungen wie Burn-out oder mentaler Erschöpfung mit einer naturbasierten Therapie behandelt. Das beinhaltet Elemente wie individuelle Gesprächstherapie, achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie, das Wahrnehmen von Sinneseindrücken, Gartenarbeit und das Gestalten von naturbasierten Geschichten und Symbolen als Metaphern für das eigene Leben.


Zusammen einem interdisziplinären Team, zu dem natürlich auch die Ikone der Waldmedizin, Dr. Qing Li zählt, habe ich 2019 die IM-WALD-SEIN® Akademie gegründet. Sie wendet sich in erster Linie an Berufe und Institutionen des Gesundheitswesens und vermittelt Ärzten, Heilpraktikern, Therapeuten und medizinisch geschulten Personen die Anwendung des Shinrin Yoku nach Dr. Qing Li und die Waldtherapie nach der IM-WALD-SEIN-Methode.

Inzwischen gibt es mehrere Bücher zum Waldbaden. Sie haben eine ganze Toolbox entwickelt. Wie macht Ihr Buch/Konzept besonders?

Nun, dazu könnte ich Ihnen jetzt das Vorwort von unserem führenden Naturmediziner Prof. Dr. Andreas Michalsen zu meinem Buch vorlesen oder das Schlusswort des renommierten Psychotherapeuten und Forschers für Psycho-Neuro-Immunologie, Prof. Dr. Dr. Christian Schubert.


Nein, im Ernst: Mir ist es wichtig, die Verknüpfung von Wald und Gesundheit erlebbar zu machen, ohne erhobenen Zeigefinger oder Druck, mit Respekt für die Persönlichkeit. Manche Menschen brauchen fundierte Hintergründe, um sich für Veränderungen im Leben zu öffnen (Buch), andere Menschen möchten eine unkomplizierte Anleitung für unterwegs (Audioguide-Programm) und wieder andere haben das Bedürfnis, positive Veränderungen in ihrem Leben zu reflektieren und zu dokumentieren (Erlebnistagebuch).


Manche, so wie ich, freuen sich über alle drei Komponenten und auch eine visuelle Motivation für den Alltag (Wandbilder). Alle Komponenten des IM-WALD-SEIN® Programms sind perfekt aufeinander abgestimmt und professionell produziert, sodass es Spaß macht, sie regelmäßig anzuwenden.

 Sie waren sogar in Südkorea. Auf Einladung des südkoreanischen Forstministeriums sprachen Sie auf einem Symposium. Was hat es damit auf sich?

Während wir hier das Thema Wald und Gesundheit unter dem Stichwort Waldbaden als mehr oder weniger esoterische Angelegenheit betrachten und teilweise einen in meinen Augen fast schon peinlichen Popanz daraus machen, verfolgt man in Südkorea eine umfassende Waldheilungspolitik. Sie steht unter dem Motto „Von der Wiege bis zur Bahre: Leben mit Wäldern“.


Das Symposium wurde anlässlich der Grundsteinlegung eines neuen nationalen Forest-Healing-Center (Waldheilungszentrum) abgehalten, welches wir auch besuchten. Ich war Teil eines internationalen Expertenteams und sprach über „Wald und Gesundheit: Aktueller Stand, Diskussion und Initiativen in Deutschland“.


Diese beeindruckende Reise hat mir einmal mehr gezeigt, worum es bei einem Kur- und Heilwald-Angebot wirklich gehen könnte und meines Erachtens auch sollte.

 Sie möchten das Im-Wald-Sein in die reguläre medizinische Versorgung bringen. Womit beschäftigen Sie sich im Moment?

Mit der Weiterentwicklung der Programme des IM-WALD-SEIN® Instituts für Waldmedizin und Waldtherapie und seiner Partnerschaften. Wir möchten Menschen mit lebensweltbezogenen Angeboten und wirksamkeitsgeprüften Programmen zu einem natürlich gesunden Lebensstil motivieren – einfach umsetzbar, für mehr Lebensenergie und Lebensqualität. Über die IM-WALD-SEIN. Akademie vermitteln wir originär das Shinrin Yoku nach Dr. Qing Li. Im Rahmen der Heilbehandlung versteht sich die settingbezogen entwickelte IM-WALD-SEIN® Methode als ergänzende Therapieform, die immer das Empowerment von Patient*innen im Blick hat.


Dieser Ansatz ist einzigartig in Europa. Der Integrativmediziner Prof. Dr. Byeonsang Oh von der Sydney Medical School, Australien, hat uns dazu sehr inspiriert. Ich habe Prof. Oh in Südkorea kennengelernt. Das hat mich außerordentlich gefreut. Prof. Dr. Byeonsang Oh hat einen hervorragenden Review über das Shinrin Yoku verfasst, den ich in meinem Buch auf Deutsch aufbereitet habe. Während einer langen Busfahrt stellte ich ihm unser erstes Konzept vor. Es hat ihn so begeistert, dass wir alle möglichen medizinischen Anwendungsfälle durchgesprochen haben. Ich bin sehr dankbar für Prof. Ohs Einschätzung, seine Anregungen und Ratschläge. Genauso wie für die vielen guten Gespräche mit dem Immunologen Dr. Daniel Rukavina über die Bedeutung der Natürlichen Killerzellen bei der Bekämpfung von Viren und krebsbefallenen Zellen.


Im Augenblick beschäftigen wir uns auch damit, das Augenmerk der Ärzteschaft auf die erwiesenen Wirkungen des Shinrin Yoku nach Dr. Qing Li zu richten und sie für die Waldtherapie nach der IM-WALD-SEIN® Methode zu begeistern. Denn es ist schon erstaunlich: Therapeutische Landschaften und therapeutisches Landschaftserleben werden von vielen Wissenschaften untersucht, doch ausgerechnet für die Ärzteschaft scheinen sie kaum ein Thema zu sein. Mehr dazu auf unserer Institutswebsite.

Die Pandemie hielt die Welt in Atem. Deutschland stand sehr lange still. Wie erlebten Sie diese Zeit?

Sehr seltsam. Doch ich bin dankbar, dass meine Familie und meine Freunde gesund sind und in meinem privaten und beruflichen Umfeld alle irgendwie das Beste aus den Restriktionen gemacht haben und machen. Eine Kollegin am IM-WALD-SEIN® INSTITUT FÜR WALDMEDIZIN UND WALDTHERAPIE ist in führender Position bei einer großen Münchener Klinikgruppe tätig. Pandemiebedingt fing sie über Monate um sechs Uhr morgens mit Open end zu arbeiten an, nahm freiwillig den ganzen Tag Abstriche und hat eine Art Telefonseelsorge für die Mitarbeiter*innen organisiert. Ich bewundere ihre Energie und Flexibilität. Eine andere Freundin führt ein Studio für Reha-Sport. Pandemiebedingt war der Geschäftsbetrieb sehr lange geschlossen. Ich bewundere ihre Positivität und Kreativität im Umgang mit den Corona-Einschränkungen.


Für unser Unternehmen hat die Pandemie kaum Einschränkungen gebracht. Persönlich bin ich ein resilienter Mensch und kann gut mit Problemen und Herausforderungen umgehen. Natürlich war und bin ich derzeit noch mehr an der frischen Luft, um mein Immunsystem zu stärken und mithilfe von regelmäßigen Mikroabenteuern ein wenig Urlaubsfeeling aufkommen zu lassen.

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