Waldbad unter Linden endet tödlich: Jung-Siegfried, ein Shinrin Yoku-Opfer? Der wunde Punkt und wie du besser mit Kränkungen zurecht kommst

Dr. Melanie H. Adamek • 14. November 2023

Der wunde Punkt und wie du besser mit Kränkungen zurechtkommst

Tatort Rheintal, im tiefen Wald des Drachenfels. Der Drache war erlegt! Es hatte sich genügend Blut gesammelt, um zum Bade einzuladen. Jung-Siegfried entkleidete sich rasch und stieg in den noch warmen Lebenssaft. Was er nicht bemerkte, war das Lindenblatt, das – vom Wind abgerissen – langsam auf seine Schulter schwebte und zwischen seinen Schulterblättern haften blieb. Ein fataler Fehler! Das Drachenblut machte den blonden Recken zwar unverwundbar. Doch nicht ganz. Diese eine Stelle,  Jahre später sollte sie ihn das Leben kosten. Sein wunder Punkt wurde dem Helden zum Verhängnis.

Fauchender Drache als Reaktion auf schwere Kränkung. Blogpost Dr. Melanie H. Adamek

„Auch Kränkungen wollen gelernt sein. Je freundlicher, desto tiefer trifft’s.“ (Martin Walser)

Es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet Kriemhild, des Helden stolze Gattin, seinen wunden Punkt enttarnte und damit dem Mörder Hagen entscheidend zuarbeitete. Sie tat es freilich nicht mit bösem Willen. Es ist wirklich fatal! Naturgemäß sind es unsere Liebsten, die unsere Schwachstellen am besten kennen und ihnen am nächsten kommen. 

 

Gerade Personen, von denen wir erwarten (können), dass sie uns wohl gesonnen sind, können uns am stärksten kränken. Ins Mark getroffen fühlen wir uns. Als ganze Person erniedrigt, herabgesetzt und verkannt. 

Blinde Wut greift um sich, wir sehen kaum die Realität und schlagen zurück. Haha, nichts einfacher als das! Schließlich kennen wir ja auch die „Problemzonen“ des vertrauten Gegenübers. So wird aus dem Konflikt rasch ein Psychoduell. Ein Gemetzel, bei dem es nur Verlierer gibt. 

Mimose oder Leberwurst? 

Kränkungen sind wahrlich schwer zu ertragen. Sie wecken Erinnerungen an Niederlagen, die wir mühsam verdrängt und damit schlecht verarbeitet haben. Menschen, deren Selbstwertgefühl in früheren Zeiten einmal tief verletzt wurde, fühlen sich schneller gekränkt als andere; auch von Fremden und in harmlosen Situationen. 


Wer empfindlich ist, muss im „Alltagskampf besonders viel Energie darauf verwenden, den wunden Punkt zu tarnen, um Konkurrenten und Neidern kein leichtes Spiel zu ermöglichen und natürlich, um nicht als Mimose oder beleidigte Leberwurst zu gelten. 


Schnell gekränkt reagiert auch wer zu hohe Erwartungen an sich und andere hat. „Warum tut er/sie mir das an?“ Ein typischer Gedanke, wenn der/die andere die eigenen Erwartungen nicht erfüllt. Wer an sich selbst zu hohe Ansprüche stellt, kränkt er sich sogar selbst: Er zweifelt im Grunde an seinen eigenen Fähigkeiten und hat das Gefühl, jemand anderer – noch perfekter! – sein zu müssen.

Wen trifft's härter? Männer oder Frauen?

Untersuchungen zeigen: Männer und Frauen sind in gleichem Maße kränkbar. Ob ein Seitensprung des Partners, die ausgebliebene Überraschung am Hochzeitstag oder die Unpünktlichkeit beim Date – solche Verfehlungen können Männer wie Frauen gleichermaßen treffen. Der Geschlechterunterschied liegt in der Weise des Umgangs mit Kränkungen. Während Frauen eher in Depression und Selbstverletzung verfallen, richten Männer ihre Kränkungswut eher nach außen, gegen andere Menschen. 

Kränkung als Chance 

Kränkungen machen auf die Dauer krank und damit noch verwundbarer. Sie rühren an den wunden Punkt, und genau hierin liegt die große Chance. Wie oft begegnet uns der Anspruch, mit Kritik souverän und cool umgehen und – mehr noch – aus ihr zu lernen zu müssen! Im Dienstleistungsgewerbe gehört genau dieser Gedanke zum guten Ton bzw. zur Unternehmenskultur. Und im Partnerkonflikt führt diese Fähigkeit zum konstruktiven Miteinander, das den Streit zum beiderseitigen Gewinn werden lässt. Doch wie kommen wir dahin? 

Dem wunden Punkt auf der Spur 

Es kommt darauf an, sich selbst auf die Schliche zu kommen. Die Kränkungen, die wir erleben – richtigerweise müsste man sagen: die Situationen und Ereignisse, die wir kränkend finden (ein anderer fände sie vielleicht gar nicht so schlimm) – wiederholen sich. Es sind immer wieder dieselben Themen, oft nur Kleinigkeiten, die wir als Ohrfeige empfinden und die dazu führen, dass wir unsere Gefühle blind ausagieren und regelrecht ausrasten. Ein sicheres Signal dafür, dass ein wunder Punkt getroffen wurde! Hier heißt es, genauer hinzusehen, auch wenn’s wehtut. Wenn ich beginne, meinen wunden Punkt zu entdecken, ihn zu identifizieren, ist bereits ein großer Schritt getan. Dann habe ich viel über mich erfahren. Doch was dann? 

Rache ist süß!? 

Natürlich kann ich mich rächen und – wie heißt es doch so verführerisch – die Rache kalten Blutes genießen. Dr. Bärbel Wardetzki, Gestalt- und Familientherapeutin, hält nicht viel davon: „Die Rache hält die Kränkung nur noch länger aufrecht ... Wirklicher Ausgleich sollte auf Versöhnung abzielen, auf eine Wiedergewinnung des Gleichgewichts zwischen zwei Personen.“ Also nicht fliehen und die Beziehung zu dieser „unmöglichen“ Person abbrechen, sondern mit ihr in Kontakt treten und die Situation ansprechen. Das muss nicht sofort sein, es kann auch nach Wochen stattfinden. „Die Lösung liegt im Verstehen, nämlich im Verstehen meiner eigenen Person und auch im Verstehen des Gegenübers“, so Dr. Wardetzki. 

Worte, ein Brief, eine Vereinbarung

Natürlich ist nach einer tiefen Verletzung ein Gespräch nicht immer möglich. Dann kann es auch ein Brief sein, den ich noch nicht einmal absenden oder übergeben muss. Oder eine Vereinbarung, die kommende Situationen regelt. Die besondere Qualität des Gespräches liegt in der Möglichkeit der „Realitätskontrolle“. Wird meine Sicht der Dinge vom anderen geteilt? Was hat er sich überhaupt dabei gedacht? Weiß er, was in mir vorgeht? Sollte er nicht besser erfahren, warum ich schon auf seine hochgezogene Augenbraue allergisch reagiere, damit er mich besser verstehen kann? 

Des Kraftakts Preis 

Natürlich ist ein solches Vorgehen für den Gekränkten ein Kraftakt. Er muss der Versuchung widerstehen, gekränkt zu bleiben und damit den anderen in seiner Schuld zu belassen. Er muss seinen Hochmut überwinden und zu seinem wunden Punkt stehen. Der Lohn für die Mühe ist jedoch hoch: neues Vertrauen in sich selbst und eine neue Qualität in der Beziehung. 

Erste Hilfe bei Kränkungen: Raus ins Grüne und tief durchatmen.

Drei ultimative Erste-Hilfe-Tipps, um besser mit Kränkungen umzugehen

Die Reihenfolge bestimmst du selbst nach deinem eigenen Gefühl. Wenn dir z.B. angesichts einer Kränkung die Luft wegbleibt, wirst du vermutlich mit Tipp 2 anfangen. Wenn du dich angesichts einer Kränkung als Opfer fühlst, wirst du vermutlich mit Tipp 1 beginnen. Wenn du einfach nur „fliehen“ willst, beginne mit Tipp 3.

Tipp 1: Nimm eine aufrechte Körperhaltung ein

Wenn du bewusst eine aufrechte Körperhaltung einnimmst, erzielst du eine erstaunliche Wirkung: Du fühlst dich sofort groß und nicht wie ein gekränktes Opfer. Will sich das zur Körperhaltung passende Gefühl nicht gleich einstellen, so kannst du auch ein paarmal den Kontrast „in sich zusammengesunken und klein“/„aufrecht und groß“ üben. Zusätzlich kannst du ein paar mal die Muskeln deines Körpers anspannen und entspannen.

Tipp 2: Atme tief durch (wie beim Im-Wald-Sein)

Atme ein paar mal im Rhythmus vier zu sechs tief in den Bauch und versuche, dich völlig auf deine Atmung zu konzentrieren. Wenn es nicht gleich hundertprozentig klappt, ist das nicht so schlimm. Mach einfach weiter. Manchmal hilft es, wenn du die Augen dabei schließt. Weil du mit dieser Übung in fast allen Lebenssituationen fantastische Wirkungen erzielen kannst, ist sie fester Bestandteil unseres Im-Wald-Sein DIY-Programms fürs Waldbaden und Shinrin Yoku. Der Vorteil hier: Du bekommst noch ein Extrageschenk der Bäume für dein Immunsystem. Näheres dazu kannst du in meinem Buch nachlesen.

Tipp 3: Setz dich in Bewegung (wie beim Waldbaden)

Kränkungen führen zu Erstarrung. Wie löst man sich am besten daraus? Natürlich durch Bewegung. Bewege dich also in ein Umfeld, in dem du dich wohlfühlst und das dich auf positive Gedanken bringt. Ob du zum Joggen gehst oder dich auf eine Parkbank setzt oder im Wald spazieren gehst, bleibt ganz und gar dir überlassen. Entscheidend ist, dass du dich aufraffst. Wenn du auf völlig andere Gedanken kommen magst, probier doch einfach den Im-Wald-Sein-Audioguide  aus, unser qualitätsgeprüftes Original für deine entspannte Auszeit im Wald.

Wenn die Erste Hilfe nicht mehr reicht

Kränkungen gehören zum Leben dazu und können zu innerem Wachstum führen. Kränkungen können sich aber auch in die Seele fressen, den Selbstwert mindern und sogar körperlich krank machen. In einem solchen Fall könnte eine Gestalttherapie helfen. Diese Therapieform unterstützt Klienten, aktiv neue Erfahrungen mit sich selbst und anderen Menschen zu machen und in lebendiger Form Schwierigkeiten zu überwinden sowie neue Erlebens- und Verhaltensweisen zu erlernen.

Parallelen: Shinrin Yoku mit Onsen und das Waldbad im Drachenblut

Dass ich Siegfrieds Waldbad im Drachenblut mit dem Shinrin Yoku assoziiere, kommt natürlich nicht von ungefähr. 

Genauso wie das Drachenbad macht uns Shinrin Yoku zwar nicht unverwundbar, aber die z.B. in Südkorea populäre Bezeichnung Forest Healing kommt nicht von ungefähr. Im-Wald-Sein ist eine hervorragende Maßnahme, um seine Gesundheit zu stärken.


Kurz gesagt: Shinrin Yoku beschreibt eine japanische Praxis des Waldbesuchs. Prof. Dr. Qing Li, Umweltmediziner an der Nippon Medical School und Pionier der Shinrin-Yoku-Forschung, verfasste vor vielen Jahren bereits in dem Standardwerk Forest Medicine eine Kurzanleitung, die du in meinem Buch Im-Wald-Sein nachlesen kannst. Seine Anleitung beruht auf reichhaltigen Studienergebnissen. Einer seiner Tipps: „Wenn möglich, baden Sie nach dem Waldausflug in einer heißen Quelle. Weil wir hier keine Onsens haben, empfehle ich ein Thermalbad oder einfach die heimische Badewanne. 


Wer mehr darüber erfahren will, aber keine Bücher liest, ist hier gut aufgehoben.

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